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Der Mann, der zuviel wußte

konkret 03/99, S. 38

Die Blair-Regierung nennt es „Peace Process“: In Nordirland wächst der nationalistische Terror - Abtrünnige werden auf offener Straße ermordet (Die Redaktion).

Jahrelang arbeitete er als Zollangestellter. Er trug die Uniform ihrer Majestät, der Königin, für die er an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Irlands wachte. Seine Kontrollfahrten auf der britischen Seite des Newry-Kanals, im bergigen Osten der Insel, sollten Schmuggler aufspüren. Doch statt illegaler Grenzgänger suchte er seinesgleichen - Funktionsträger des verhaßten englischen Staates, Zollbeamte, Postboten, Polizisten, die ihr Leben verwirkt hatten, wenn er ein Gewohnheitsprofil erstellt und es den konspirativen Kommandos übergeben hatte. Sie kamen von der anderen Seite des Kanals, aus dem republikanischen Süden der Insel, und flohen dorthin, sobald die Morde vollbracht waren. Er, der IRA-Mann im britischen Zolldienst, mußte nicht selbst Hand anlegen, um die Opfer zu erschießen oder in die Luft zu sprengen, aber später gestand er, bei mindestens fünf, wahrscheinlich bei fünfzehn Morden Vorarbeit geleistet zu haben. In der subversiven Armee der 80er Jahre war Eamon Collins „Intelligence Officer“, hervorragend getarnter Nachrichtendienstler für die Einsatzgruppe „South Armagh“ der IRA.

Collins kam aus einer proletarischen Familie, in der man alles Englische haßte. „British race“: Das war der Sammelbegriff für die Leute von der Nachbarinsel und ihre irischen Handlanger, jene, die sich duckten, statt der Londoner Herrschaft ins Gesicht zu spucken. Die Gedenktage der nationalen Erhebung und die Helden des Widerstands, James Conolly oder Douglas Hyde, wurden bei riesigen Gelagen gefeiert, an denen auch die Kinder teilnehmen durften. Collins erinnerte sich an betrunkene Männer, an das Zetern ihrer Frauen vor den Türen der Pubs, an Hunger und Kälte.

Er entwuchs dem Kohlerevier und studierte später in Belfast, wo er sich sozialistischen Gruppierungen anschloß. Selbstverständlich haßte auch er die Engländer, aber er haßte sie in mehrfacher Weise: wegen des Gebarens der „britischen Rasse“, wegen ihrer anmaßenden Sprache und protestantischen Riten; zugleich haßte er sie als herrschende Klasse, was seine Entschlossenheit nur noch steigerte, denn er war Marxist.

„Unite Ireland“

Angeekelt von den Exzessen der Royalisten und ihrer Polizei, die in den Armutsvierteln von Londonderry erbarmungslos zuschlug, meldete sich Collins in den 70er Jahren zur IRA. Der Kontakt mit den führenden Kadern fand jenseits der Grenze, im Süden, statt. Er war fasziniert davon, töten zu dürfen, und dachte sich wenig, als er unter den Mitgliedern wohlhabende Farmer und Anwälte traf, die dringend empfahlen, sich von sozialistischen Flausen zu trennen. Parteinahme für die Sowjetunion galt als Ausschlußgrund. Daß in der IRA verschiedene Strömungen existierten und die Linken in der Minderheit waren, wußte er. Aber diese Strömungen kooperierten. Ihr kleinster Nenner, nationale Selbstbestimmung und irische Einheit, schien ihm genügend Raum zu bieten, um die soziale Frage auf den Aktionsplan zu setzen, sobald die nationale gelöst war: „Unite Ireland!“

Die Verfeinerung der Nachrichtenarbeit hielt Collins in Atem. Mehrere Jahre lang war er beschäftigt, Leute seiner Stellung auszuforschen, drittklassige Beamte, einfache Soldaten, deren Ermordung von Zufällen abhing oder zu Verwechslungen führte. Mal traf es ein Kind, mal einen harmlosen Namensvetter des zur Liquidation bestimmten Opfers. Hatte er anfangs geglaubt, in den Tötungskommandos würde das eherne Schwert der Gerechtigkeit richten, so fiel ihm nun auf, daß Lumpenproleten mit Schießeisen spielten und ihr Terror wie wahllos die Vorstädte traf. Die gefürchtete Einsatzgruppe „South Armagh“ der IRA, auf die in republikanischen Kneipen die Leute anstießen zum Wohle der Heimat, operierte bewußtlos, scheinbar ohne System. Vielleicht, sagte er später, wäre auch ohne seine Verhaftung der Abstand gekommen, den er wohl brauchte, um im bewußtlosen Morden das Programm zu entdecken, die politische Größe, die seinen sozialistischen Hoffnungen hohnsprach.

Aktienanteile am Hauptunternehmen

1985 verschwand Collins hinter Gittern. Laut Urteil eines Berufungsgerichts wurde er zu Geständnissen erpreßt und „unter unmenschlichen Bedingungen veranlaßt, über Dritte auszusagen“. Collins widerrief seine Geständnisse, was zur Freilassung mehrerer Verhafteter führte, aber er brach trotzdem mit der IRA.

Nach fast zehnjähriger Odyssee kehrte er nach Newry zurück und teilte eine häßliche 3-Zimmer-Absteige mit seiner Frau und vier Kindern. Barcroft Park heißt der Slum, in dem die katholische Armut IRA-Flaggen hißt und den alten Idealen treu bleibt. Wenn Collins das Haus verließ, konnte er bis zu den Baugruben im Stadtzentrum sehen. Dort entstand aus EU-Mitteln ein Millionenobjekt, halb Nachrichtenbörse, halb Luxushotel, das nicht den verhaßten Engländern gehörte, sondern, wie vieles seit neuestem, einem Clan aus dem Süden. In den grotesk überladenen Hallen voller keltischem Kitsch besprach das bessere Newry die Tagesgeschäfte, und Collins bemerkte, daß hier Leute verkehrten, die dem innersten Zirkel des Terrors entstammen.

Sie kreuzen im Schlepptau der Viehhändler auf, vermögend gewordener Subventionsspezialisten, die ihre Brüsseler Gelder in Dublin anlegen. Was ihnen fehlt, ist der Eigentumszugriff auf den Rest der Nation: „Unite Ireland“.

Es dauerte, bis Collins sich durchrang, sein früheres Leben in einem Buch zu beschreiben, das die sozialen und politischen Fundamente des republikanischen Terrors aufdeckt.1 Anschließend begann er mit historischen Forschungen und widmete sich den Helden seiner Jugend: James Conolly, Douglas Hyde, der frühen IRA. Er stieß auf ein Fundament von Rassismus, keltischem Wahn2 und früher Verehrung der Nazis. Seine jüngsten Recherchen galten Canon Hayes, einem nationalen Prediger des irischen „Volkstums“ und Bewunderer Mussolinis („Muintir Na Tire“). Collins frühere Rechtfertigungen für die Zusammenarbeit zwischen IRA-Spitzen und dem Oberkommando der NS-Wehrmacht wurden leiser. Er schwieg, wenn die Rede auf IRA-Kader kam, die während des Krieges in Berlin bereitstanden, um Propagandamissionen3 und Sabotageanschläge gegen England zu starten4.

Daß sich das NS-Regime im republikanischen Süden höchster Sympathien erfreute, nachdem der Krieg längst vorbei war, schien für die aktuelle Entwicklung nicht bedeutend zu sein. Den Zusammenhang stellte Collins erst her, als der sogenannte „Peace Process“ in Gang kam. Jetzt betrat Gerry Adams die Bühne, Führer des politischen Arms der IRA (Sinn Feín), und Slab Murphy, IRA-„Chief of Staff“, gefiel sich in der Rolle pazifistischer Unschuld. Collins kannte beide von früher, aus den Zeiten der Hit-and-Run-Operations. Ihr Outfit begann der Staffage von Brokern zu gleichen. Collins hatte den Eindruck, daß sie bei der politischen Sicherung enormer Gewinne Garantiemacht spielen - für Aktienanteile am Hauptunternehmen, dem vereinigten Irland, dessen Stammpersonal rassisch („keltisch“) konfektioniert werden soll. Seit mehreren Jahren boomt das Land und bezieht mehrstellige Millionenbeträge aus dem EU-Regionalfonds, einer Goldgrube für Aktivisten des „Europa der Regionen“ (EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies). Dank dieser europäischen Gelder, die Spekulanten anziehen, explodieren in Dublin die Immobilienerträge. Zugleich wächst die ländliche Armut.

„Sie quälen dich“

Collins begann Fragen zu stellen. Er stellte sie öffentlich, weil trotz aller Beteuerungen der Terror nicht nachläßt: Bestrafungsaktionen gegen Kritiker, denen die Kniescheiben zerschossen werden, Morddrohungen und Attentate, die Collins bereits 1997 am eigenen Leibe erfuhr, greifen um sich. Im vergangenen Jahr richtete er einen Offenen Brief an Gerry Adams, den Chef der Sinn Feín, der die Gewalttätigkeiten angeblichen Dissidenten zuschreibt. Collins beschuldigte Sinn Feín eines schmutzigen Spiels: „Die Täter sind ehemalige Provos5, ehemalige Sinn Feín-Mitglieder, aber haben ihre alten Kontakte nie gekappt; nach wie vor sind sie bei Sinn Feín angebunden, ebenso wie bei den Republikanern und den Dissidenten.“

Als eine sogenannte „Real IRA“ im August 1998 vor dem Supermarkt von Omagh 29 Menschen ermordete und Dutzende zu Krüppeln machte, publizierte Eamon Collins ein Täterprofil, das zum Kopf der Gruppe führt: Der prominente IRA-Kader ist in ein weiteres Massaker verwickelt, bei dem 18 englische Soldaten ermordet wurden. Collins glaubte feststellen zu können, daß das Programm solcher Taten die Willkür ist, die Verbreitung von Angst, unter der soziale Gerüste zu Bruch gehen sollen und mit ihnen die Macht, die beerbt werden könnte. „Der IRA-Terror setzt unten an. Seine militärische Geisel ist jene Gesellschaft, die zu befreien unser oberstes Ziel war.“ Collins hielt es nicht mehr für ausgeschlossen, daß Sinn Feín einerseits bombte und andererseits anbot, aus den Waffen des Terrors Prügel zu schmieden, die man ausliefern würde, sofern die wichtigsten Clans im kommenden Staat an der Herrschaft teilhätten. Es ergab Sinn, daß Gerry Adams bei den Basken auftrat und ihre Zukunft in „Euzkadi“ beschwor, einer von Spanien getrennten Ethno-Gemeinschaft, die - wie das vereinigte Irland - als Wirtschaftsregion von Interesse sein würde.

Keine vier Wochen nachdem er seine Überlegungen publik gemacht hatte, brannte das Haus, in das Collins umziehen wollte. Das Grundstück liegt in einem Vorort von Newry, mit steinigem Garten aber herrlicher Aussicht, und er hatte gehofft, daß die Kinder dort besser dran sein würden als im städtischen Slum. Den Rohbau hatte er selbst hochgezogen. Die Brandstifter warteten bis zum Morgen des Einzugs. „Sie quälen dich“, sagte er, „es ist das Programm von Faschisten.“

Obwohl man ihm riet, das Land zu verlassen, gab Collins nicht auf. Seit September kratzte er Ruß von den Steinen und wartete auf die Versicherungsprämie. Im Januar nahm er Farbe und Pinsel, um Graffiti zu übermalen, die ihm das baldige Ende androhten. Er war als Zeuge in mehreren Prozessen geladen, von denen der Ruf prominenter IRA-Kader abhing, doch bevor er aussagen konnte, begann die Aktion eines Liquidierungskommandos. Collins wurde bewußtlos geprügelt, dann mehrfach erstochen und sein Schädel zuletzt von einem Wagen zermalmt. Die Identifizierung der Leiche dauerte sechs Stunden.

Wertschöpfung transnational

Für die Atmosphäre des Hasses und der Gesetzlosigkeit ist es bezeichnend, daß irische Zeitungen Stellungnahmen verbreiteten, die - offen oder verklausuliert - den Anschlag begrüßen. Laut „Irish News“ sagte der Ratsvorsitzende von Newry, ein Sinn-Feín-Mann, über Collins: „Er hat mit dem Finger auf andere gezeigt und sie als Mitglieder der IRA denunziert ... meistens nur Lügen ... Es gibt wohl nicht viele, die ihn vermissen.“ Ein Gemeindevertreter rief dem Toten hinterher: „Wer mit dem Schwert lebt, wird durch das Schwert gerichtet werden.“ In den republikanischen Slums von Barcroft Park, am Morgen des Todes, ließ ein Nachbar von Collins die Presse notieren: „Bei uns in der Stadt existieren sieben Pubs, und dort wird man heute Nacht einer Meinung sein. Collins ist abgetreten. Kein Verlust festzustellen.“

Smart, gänzlich arglos kam Gerry Adams daher. Der Staatsmann in spe, dem im März ein Ministeramt winkt, ließ wissen, daß er „keinen Anlaß habe, davon auszugehen, daß schuldhafte Handlungen im Spiel sind“. Auch Mr. Blair, Bündnispartner von Adams, versucht, den Terror zu ignorieren, obwohl fast täglich Menschen zusammengeschlagen oder bedroht werden - Eamon Collins war noch nicht begraben, als Unbekannte den ehemaligen IRA-Mann Paddy Fox entführten und Anfang Februar neun Stunden lang mißhandelten. Fox ist ein weiterer Kritiker der IRA-Mutanten, die in Erwartung ihrer Regierungsbeteiligung den militärischen Terrorapparat in ein vorstaatliches Gangsterunternehmen zu überführen scheinen, das es mit Arafats Clanpolizei durchaus aufnehmen kann. Die englische Regierung duldet diese Entwicklung, denn nichts ist ihr wichtiger als das Ende eines grandiosen Zuschußgeschäfts. Die Kontrolle Nordirlands hat Kosten verursacht, gegen die der Gewinn lächerlich ist, jedoch Zuwachs verspricht, wenn man regionalen Verwaltern das Regieren erlaubt und die eigenen Belange, per Internet-Zugang, an den Börsen von Belfast und Dublin durchsetzt - „Unite Ireland“, aber subsidiär.

Addiert man die Entwicklung im Baskenland, wo radikale Konservative gemeinsam mit ETA-Anhängern einen EU-kompatiblen Ethno-Staat fordern, oder denkt man an Tudjman und Bossi, Rugova und die UCK, so zeigt sich, daß die ökonomische Krise das alte Europa weiter zersetzt, wobei schwache Nationen in Miniaturen zerlegt werden: in konkurrierende Wettbewerbseinheiten, für deren Verwaltung sich Gruppen anbieten, die ihr Ziel - separatistischen Machtgewinn - mal sozial, mal rassisch drapieren. Außerhalb jeder Rechtstradition kann in diesen Regionen das Gangstertum blühen: Wertschöpfung transnational, den Rest besorgt Willkür.

Anmerkungen:

1 Eamon Collins: Killing Rage. Deutsche Ausgabe: Blinder Haß. Frankfurt a. M. 1997.
2 „... Alles Rassische müssen wir pflegen, alles was nach Boden schmeckt ... denn trotz der Beimischung englischen Blutes ... ist diese Insel keltisch und wird es auf ewig sein“ (Douglas Hyde, erster Präsident der Republik Irland).
3 David ODonoghue: Hitlers Irish Voices. Belfast 1998.
4 Joachim Lerchenmueller: Keltischer Sprengstoff. Tübingen 1997.
5 Provos: Anhänger oder Mitglieder der IRA.